Anne Hirths neue Arbeit "und übrigens kann ich fliegen" im HAU
I

Am Anfang war das Wort. Dann folgte ein zweites, und geboren war der Widerspruch. Seitdem strebt alles zum Anfang und findet nichts als Widersprüche. Denn in der Welt sein, bedeutet in Widersprüchen leben.

II

"und übrigens kann ich fliegen" heißt die neue Performance von Anne Hirth, der ehemaligen Assistentin von Luc Dunberry und Sasha Waltz. Schon im Ankündigungstext ihres neuen Projektes mit dem "büro für zeit + raum" wimmelt es vor abstrusen Bildern: "im vordergrund eine schwarzweiße, nach worten ringende abendgesellschaft. eine hasenband auf rollschuhen weht vorbei, die instrumente auf den rücken geschnallt. einige tragen kopfverbände, andere haartollen. aus dem souffleurkasten summt es ,hoch auf dem gelben wagen', gemischt mit ,the sun ain't gonna shine anymore' und dem verkehrsfunk. jemand entwendet eine goldene türklinke. von der seitenbühne auftritt der alten damen."

Sie verstehen nicht? Dann haben Sie verstanden. Denn das Nichtverstehen ist die Voraussetzung dafür, den Widerspruch zu verstehen. Und um am "Phantasietraining für die wirkliche Wirklichkeit" teilzunehmen. So der Untertitel der Performance.

III

Die wirkliche Wirklichkeit. Das ist die Wirklichkeit der Theologen. Denn eine wirkliche Wirklichkeit gibt es nur für den Gläubigen, der an Wirkkräfte im Hinter-, Unter- oder Obergrund glaubt, an Gott zum Beispiel. Es ist eine herrliche Wirklichkeit, die sich dem Gläubigen offenbart. Leider ist sie mit lauter Widersprüchen verhangen. Wer ist Gott? Wo ist er? Und warum überhaupt?

Wer so fragt, kann nicht mehr aufhören. Thomas von Aquin, der Kirchenvater, hat drei dicke Bände für seine "Summe der Theologie" gebraucht und keine Antworten gefunden. Augustinus, sein Vorgänger, hat seine "Bekenntnisse" geschrieben und sich regelrecht ins Widerspruchsdenken verliebt. Und Hegel, der letzte große Theologe unter den Philosophen, hat bändeweise an einem Widerspruchsaufhebungssystem gearbeitet, das ihn selbst widerlegte. Die Sehnsucht nach der wirklichen Wirklichkeit stammt von Gott, von allem Anfang her. So beschreibt es Dominik Perler in seinem wunderbar lehrreichen Buch "Zweifel und Gewissheit", in dem er Einblicke in die "skeptischen Debatten im Mittelalter" gewährt.

IV

Aber die Menschen glauben nicht mehr an Gott. Zumindest denken sie das. Glauben sie deshalb an das Paradox? Wird der Widerspruch so zum Gott? Nicht unbedingt. Aber es wird zu Kunst, der liebsten Heimat des Paradoxons. "Dunkel war's, der Mond schien helle" ist deshalb ein berühmtes Gedicht, weil es die Widersprüche zum Tanzen bringt. Und es ist denn auch dieses Gedicht, das Anne Hirths Produktion ihren Impuls gegeben hat. "Schnee lag auf der grünen Flur, als ein Wagen blitzesschnelle, langsam um die Ecke fuhr." Manche schieben das Gedicht Goethe in die Tasche, andere vermuten Christian Morgenstern als Autor. Die Wahrheit ist, dass es aus Sachsen stammt. Und zwar aus der Sammlung "Volksthümliches aus dem Königreich Sachsen, auf der Thomasschule", gesammelt von Oskar Dähnhardt, erschienen bei Teubner, Leipzig 1898. Ein Gedicht von unsterblicher Komik - und Wahrheit.

V

Wahrheit? Der Widerspruch will seine Wahrheit nicht preisgeben. Höchstens mit den Mitteln der 'Pataphysik - mit einem vorangehenden Apostroph geschrieben. Das ist die "Wissenschaft von den imaginären Lösungen", die Alfred Jarry, Autor des Stückes "König Ubu", erfunden hat. Mit ihr wird die Identität der Gegensätze bewiesen. Denn 'Pataphysik ist die Krönung des Widerspruchs durch seine Auflösung ins Imaginäre.

Es kann keinen schöneren Stoff für eine Performance geben, als so dem Widerspruch zu huldigen. Denn alle Kunst ist Überlebenskunst, also Einübung ins Paradox, also in die Phantasie.

Text: Dirk Pilz
Theaterkritiker